Trotz verspäteter Ankunft in Cochabamba am Donnerstagmorgen erreichten wir die Universität, wo die Konferenz stattfand, rechtzeitig. Wir registrierten uns am Empfang, nahmen die Unterlagen entgegen und mussten uns dann auch gleich für die verschiedenen Workshops am Nachmittag eintragen. Da machte sich bereits der erste Unterschied zwischen Bolivien und der Schweiz bemerkbar. Teresa diskutierte mit mir, welcher Kurs wohl am Besten sei. Zwei von den Kursen betrachtete ich als interessant und evtl. auch hilfreich für unsere Arbeit in Potosí (Schmerztherapie und ethische Entscheidungen/Umgang mit Sterben und Tod). Teresa entschied sich schliesslich für Schmerztherapie. „Super, so können wir von zwei Kursen profitieren.“, dachte ich und schrieb mich im anderen Kurs ein. Teresa meinte darauf hin erstaunt: „Warum hast du dich jetzt bei Ethik und nicht auch bei der Schmerztherapie eingetragen?“ Ich erklärte ihr, dass wir somit von 2 Kursen profitieren und Fachwissen in unsere Klinik mitnehmen können. Das leuchtete ihr dann ein und auch die beiden Herren, die für diese Listen zuständig waren, meinten dann: „Ja, stimmt eigentlich. Das ergibt Sinn.“ 

Als wir dann pünktlich (schweizer Pünktlichkeit) im praktisch noch leeren Saal sassen, kam Teresa nochmals auf den Ethik-Workshop zu sprechen und ich erklärte ihr meinen zweiten Grund, warum ich diesen gewählt hatte. Ich dachte, so würde ich vielleicht noch etwas über die Kultur und deren Umgang mit Tod/schwierigen Situationen erfahren. Ihre Antwort und ihren Gesichtsausdruck hättest Du hören und sehen sollen! Das war echt Gold wert. Ich konnte mich im letzen Moment noch beherrschen, um nicht laut herauszulachen. Sie antwortete: „Oh, so viel und schnell wie du gedacht hast, das hätte ich nie geschafft!“

Selbst im beruflichen Kontext gehen die persönlichen Beziehungen oft vor. Fachwissen scheint nicht so wichtig. Man geht gemeinsam in einen Workshop oder zu einer Weiterbildung. Auch wenn das Thema für einen selber irrelevant ist, oder man sich nicht für das Thema interessiert. Hauptsache, man ist nicht alleine, sondern mit den Freunden/Kollegen.

Das Programm der Konferenz war eigentlich ganz gut. Auf dem Papier zumindest. So wie ich mir eine derartige Konferenz vorstelle und gewohnt bin.

Die Realität sah dann ein bisschen anders aus. Mit viel Verspätung begann es dann endlich und zwar mit unzähligen Danksagungen an die Universität, den Direktor, die Dozenten, Organisatoren, Zuhörer etc. Ich glaube, die einzigen Personengruppen, die nicht erwähnt wurden, waren diejenigen der  Reinigungsfachkräfte und des Sicherheitspersonals am Eingang;-)

Als dann endlich die Vorträge begannen, wurde meine Geduld aber erst so richtig auf die Probe gestellt! Die Dozenten hatten wahrlich ein Talent, über eine Stunde sprechen zu können, ohne eigentlich viel zu sagen. Ausserdem waren die fachlichen Inhalte so grundlegend (wir lernten das zum Teil im 1. Ausbildungsjahr!), dass ich nichts Neues lernte. Was aber alles toppte, war die Fragerunde. Jeder, der eine Frage stellte, begrüsste erst den Dozent, bedankte sich danach ebenfalls überschwänglich bei den Organisatoren, der Universität, etc. und wenn man Glück hatte, folgte daraufhin die Frage. Oft kam aber zuerst ein Mini-Vortrag zu der eigenen Person und erst dann die Frage. Kannst Du dir vorstellen, wie es in mir kribbelte? Und dass ich noch nie in meinem Leben sooo froh und dankbar gewesen war, ein Stück Papier und einen Kugelschreiber zur Hand zu haben? So konnte ich immerhin herum kritzeln.

In der Schweiz wäre wohl der grösste Teil der Teilnehmer aufgestanden und schon mal in die Pause gegangen. Aber hier blieben eigentlich fast alle sitzen, bis zum Ende. Aus Respekt. Und das hat mich ehrlich gesagt schon ganz schön beeindruckt.

In der Pause kam ich mit verschiedenen Leuten ins Gespräch und natürlich wollten sie auch wissen, wie es in der Schweiz so läuft und wir verglichen unsere Kulturen ein bisschen. Ich erwähnte auch, dass ich es toll fand, dass hier ziemlich alle sitzen blieben, egal wie lange die Fragen und Vorträge dauerten und erzählte, wie es in der Schweiz oft abläuft. Die Antwort war dann in etwa: „Ja, wir denken eigentlich auch alle das gleiche wie ihr Schweizer und würden gerne rausgehen. Ihr zieht es dann einfach durch und wir können das nicht.“ Aha, interessant! Und wieder was gelernt:-)

Am 2. Tag wollte Teresa die Mittagspause nutzen um einige Dinge in einem Spezialladen zu kaufen, die es in Potosí nicht gibt (Sachen für Allergiker). Da sich der Laden in einem anderen Stadtteil befand und nur kurze Öffnungszeiten hatte, war unsere einzige Change die Mittagspause. Teresa fragte mich am Vorabend darum folgendes: „Regina, was meinst du, können wir morgen die Schweizer Art anwenden und pünktlich rausgehen? So wie ihr das macht?“ Und so machten wir es dann auch;-) 

Die Kunst besteht wohl darin, von beiden Kulturen das Beste zu nehmen: Pünktlich in die Mittagspause gehen (Schweiz) und weil ja alles immer später anfängt als geplant, kann man ruhig 30-45 min später auftauchen (Bolivien). Das ergibt dann eine schön lange Mittagspause;-)

Ich habe zwar kein neues Fachwissen gelernt, dafür eine Menge anderes, kulturelles und es hat sich absolut gelohnt für diese 3 Tage „schnell“ nach Cochabamba zu fahren.

Einer der Vorträge beleuchtete die aktuelle Situation in Bolivien und was ich dort hörte, war schon ein bisschen beunruhigend:

  • Das Fachgebiet „Palliative Pflege“ ist in Bolivien ziemlich neu und daher ist auch kaum Fachwissen vorhanden, geschweige den Kliniken oder Spitäler, die das anbieten.
  • Im Staat Potosí hat der allergrösste Teil der Bevölkerung keine „Versicherung“ und auch keinen Zugang zu adäquater medizinischer Hilfe. 
  • Einen Termin in einem Spital oder Klinik (tw. auch in der Notfallaufnahme) zu erhalten, ist sehr schwierig und manchmal auch kompliziert. Das ist mitunter auch einer der Gründe, warum wir in unserer Klinik Allinta Ruwana nachmittags immer mal wieder Patienten haben, die im Spital keinen Termin bekommen haben und nun verzweifelt versuchen, einen Arzt zu sehen bevor sie mit dem Bus in einer mehrstündigen Fahrt wieder in ihr Dorf zurückkehren.
  • Das für mich Erschreckendste war aber mit Abstand die Situation der Schmerztherapie: Morphin ist nur sehr schwer zu bekommen. Die Abgabe von starken Schmerzmitteln ist hier so kompliziert geregelt, dass man fast keinen Zugang dazu hat. Wenn eine Apotheke oder Klinik solche Medikamente anbieten oder im Sortiment haben möchte, dann müsste sie einen dermassen grossen Aufwand und Papierkrieg betreiben, dass sie es lieber gleich bleiben lassen. Der einzige Ort ist also meistens der öffentliche Spital. Und auch dort braucht es einiges um das Medikament zu kommen. Und dabei handelt es sich NUR um Morphin. Sind stärkere Mittel nötig, zum Beispiel Fentanyl, so sucht man das in Bolivien praktisch vergeblich! Und weil die Ärzte wissen, wie schwierig und kompliziert es für sie ist, solche Medikamente zu rezeptieren und danach das Rezept auch einlösen zu können, verschreiben sie halt oft einfach Dafalgan und Ibuprofen. Ist kein Witz. Das wurde mir von einem der anwesenden Ärzte gesagt!

Ich möchte wirklich nicht wissen, was Krebs- oder Schmerzpatienten alles erleiden müssen, nur weil sie keine angemessene Schmerztherapie bekommen! Da besteht noch viel Nachholbedarf und Aufklärungsarbeit.

Auf der Rückreise nach Potosí hatte ich viel Zeit, um mir in Ruhe alles nochmals durch den Kopf gehen zu lassen. Wie gut haben wir es in der Schweiz, was die medizinische Versorgung und die Medikamente anbelangt. Dafür ist in Bolivien der familiäre Zusammenhalt und die Gemeinschaft in der Regel deutlich stärker. Wie wäre es wohl, wenn man beides kombinieren würde? Hätte man dann die „optimale Pflege und medizinische Versorgung“?

Zum Abschluss musste jeder etwas auf ein Stück Stoff malen und zum Ausdruck bringen, was Palliativpflege bedeuten kann, sowohl für Patienten als auch für Angehörige
Teresa (links) in Aktion

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