Die Karnevalstage sind in Bolivien offizielle Feiertage und fielen dieses Jahr praktischerweise auf Montag und Dienstag. Gefeiert wurde mit Umzügen und natürlich jeder Menge Alkohol.
Viele christliche Gemeinden organisierten daher über diese Tage Freizeiten für ihre Jugendlichen. Auch „meine“ Gemeinde organisierte ziemlich kurzfristig eine 2-tägige Freizeit für die Teenager und all diejenigen, die mitgehen wollten.
Ehrlich gesagt, hatte ich nicht die Absicht mitzugehen. Dafür war ich nun wirklich zu alt, resp. die Zielgruppe war nicht meine Altersklasse. Allerdings wurde ich von mehreren Leute gefragt, ob ich mich nicht auch anmelden würde. Das Alter würde keine Rolle spielen, es sei bestimmt sehr lustig, etc. Es kam also, wie es kommen musste: Ich meldete mich an. Und zwar dachte mir, dass dies eine gute Gelegenheit sei, die Jugendlichen besser kennen zu lernen und herauszufinden, wie in Bolivien die Freizeiten durchgeführt werden. Ausserdem konnte Susana sicher Hilfe gebrauchen in der Küche.
Da ich keine Ahnung hatte, wo Carma lag und wie kalt es in der Nacht werden würde, fragte ich nach. Ich musste ja schliesslich wissen, wieviele Decken ich einpacken sollte. Allerdings sagte mir jede Person, die ich fragte, sagte etwas anderes: von warm bis bitterkalt hörte ich alles… Typisch Bolivien eben. Ich packte also auf gut Glück und war pünktlich am Treffpunkt. Dort traf mich fast der Schlag, als ich sah, was alles mitkommen musste: ca 18 Matratzen (kein Witz!), Stühle, 2 grosse Lautsprecher, die Sound-Anlage, Laptop, Beamer, das gesamte Essen und Küchenausrüstung, Putzsachen, etc…
Und natürlich bekam ich auch noch den 1.Hilfe-Kasten in die Hand gedrückt und wurde zur verantwortlichen Person für alles medizinische ernannt. Ich schaute mir den Inhalt genauer an, wurde aber nicht schlau. Ein komplettes Durcheinander und jede Menge Medikamente, die ich nicht kannte. Ich schloss den Kasten wieder und dachte: „Es sind ja nur 2 Tage. So viel kann ja nicht passieren…“ Das ich ein paar interessante (kulturelle) Lektionen lernen würde, wusste ich noch nicht.
Als der gemietete Bus mit der obligatorischen Verspätung eintraf, wurde alles was irgend möglich war, dort reingepackt, inklusive uns Teilnehmer. Den Rest würde der Bus später noch holen und uns bringen. Die Jugendlichen hatten das reinste Fest im Bus und ein Sing-Spiel nach dem anderen wurde gespielt. Ausdauer hatten sie echt, das musste man ihnen lassen. Und sie kannten viele Lieder komplett auswendig.
In Carma angekommen, bezogen wir unsere Unterkunft. In Wirklichkeit war es einfach ein Gebäude (Hacienda) mit leeren Räumen. Es gab rein gar nichts und jetzt verstand ich auch, warum so viel Material mitkommen musste. Anscheinend ist das hier so üblich: Man mietet ein wortwörtlich leeres Haus, und bringt alles selber mit.



Ein Bad/WC hatte es auch nicht, stattdessen mussten wir ins Dorf hochgehen und das öffentliche WC benutzen. Natürlich gab es dort weder WC-Papier, noch Licht und auch keine richtig abschliessbare Türe.


Wasser gab es auch keines im Haus oder auf dem Areal. Dafür hatte es auf dem Dorfplatz einen Wasserhahnen, wo wir das Wasser eimerweise holen mussten. Keine Ahnung ob das Trinkwasser war. Ich bezweifelte es.

Kaum hatten wir unsere Sachen in den vorgesehenen Schlafräumen deponiert, ging es auch schon los zum Sportplatz um Fussball zu spielen.
Nach dem Mittagessen stand dann ein Besuch im Schwimmbad auf dem Programm für diejenigen, die wollten.
Wie angenommen konnte Susana Hilfe in der Küche gebrauchen und ich erhielt einen Einblick in die Art und Weise wie Bolivianerinnen hier kochen:
- Das wichtigste scheint das Öl zu sein. Die Teigwaren werden zuerst im Öl frittiert, bevor sie in die Suppe gegeben werden. Spiegeleier werden ebenfalls im Ölbad gebrutzelt und selbst über den Reis kommt am Schluss noch eine gute Portion Öl.
- Zucker darf auch nicht fehlen! Die Limonade enthielt gefühlt mehr Zucker als Zitronen und der Haferbrei zum Frühstück mehr Zucker als Haferflocken.
- Sämtliches Gemüse wird in kleinste Würfelchen geschnitten und die Kartoffeln (gilt als Gemüse) geschält und ebenfalls zerkleinert. Danach wird alles eine gefühlte Ewigkeit gekocht/zerkocht.
Auf dem Boden sitzend schälten wir kiloweise Kartoffeln und schnipselten Gemüse. Alles mit grossen Küchenmessern, die dringendst geschliffen werden sollten. Dazwischen erfolgte immer wieder einmal ein Gang zum Hauptplatz um Wasser zu holen. Ich kam mir vor wie im Mittelalter:-)


Und dann kam der Abend, respektive die Zeit nach dem offiziellen Abendprogramm! Es wurde ein Spiel nach dem anderen gespielt. Wie bei uns in den Kinderlagern/Freizeiten. Allerdings waren es die ca 20jährigen, welche mit grossem Eifer spielten und die Jüngeren mitzogen. Auch hier war Nein-sagen nicht angebracht und so spielte ich jede Menge neuer Spiele mit den Kindern und Jugendlichen… und kam mir dabei manchmal wie im falschen Film vor! Um 3 Uhr morgens kehrte dann langsam Ruhe ein und ich legte mich kurz hin um auszuruhen, bevor ich wieder in die Küche ging um Susana zu helfen.


„Regina schnell, XY geht es nicht gut. Gib ihr bitte etwas!“, diesen Spruch hörte ich nicht wenige Male während dieser zwei Tage. Und zwar von Esther, welche angehende Zahnärztin ist.
Sie verabreichte einfach allen Ibuprofen (Schmerzmittel) und/oder Pantozol (Magenschutz). Anscheinend ist das hier der Standard. Ohne allerdings genau nach dem Problem zu fragen.
Die Hauptbeschwerden waren Kopfschmerzen/Schwindel, was ja auch kein Wunder war. Die Leute hier trinken kaum etwas, max zwischen 0.5 – 1 Liter pro Tag. Und wenn sie dann noch den ganzen Tag draussen sind und Sport machen, ist es kein Wunder, wenn sie Kopfschmerzen haben. Ich habe also brav jede Menge Ibuprofen und Pantozol verteilt.
Eine Teilnehmerin fühlte sich plötzlich unwohl und ich wurde zu ihr gerufen. Sie äusserte Kribbeln und Taubheit in den Händen, Schwindel und allgemeines Unwohlsein. Sie sass auf der Matratze und machte den Anschein, als ob sie nächstens in Ohnmacht fallen würde. Dann fing sie auch noch an zu hyperventilieren. Kaum war ich bei ihr, kam auch schon Esther und wollte wissen, ob ich ihr schon was gegeben hätte. Als ich verneinte, meinte sie, ich sollte ihr unbedingt etwas geben. Doch dieses mal weigerte ich mich und Esther verliess den Raum. Ich beruhigte das Mädchen und brachte sie dazu, wieder normal zu atmen und stellte ihr ein paar Fragen. Schnell stellte sich heraus, dass sie diese „Anfälle“ kannte und sie jeweils auftraten, wenn sie Stress hatte. Ich „verordnete“ ihr Bettruhe für die nächste Stunde und organisierte ihr etwas zu essen und siehe da, bald war sie wieder „ganz die Alte“.
Dass Esther an meiner „Behandlung“ nicht so grosse Freude hatte, war offensichtlich. Also führte ich ein klärendes Gespräch mit ihr und fragte unter anderem auch nach, was ich denn ihrer Meinung nach hätte machen oder verabreichen sollen. Die Antwort war wenig überraschend: „Keine Ahnung“. Immerhin war der Friede zwischen uns wieder hergestellt;-)
Trotz allem war mir Esther eine wertvolle Hilfe und ich habe so einiges von ihr gelernt, zum Beispiel:
– dass die Leute hier erwarten, dass sie für jede Beschwerde und Unwohlsein (ich nenne es mal „Wehwehchen“) ein Medikament bekommen und zwar ein möglichst starkes.
– Panadol/Dafalgan sollte man nicht geben, weil die meisten denken, dass es eh nichts nützt und man sie nicht ernst nimmt.
– Jeder noch so kleine Schnitt oder Kratzer muss gründlich desinfiziert und sehr grosszügig verbunden werden.
– Jede Beule muss unbedingt untersucht und behandelt werden, weil es gefährlich sein könnte. Auch wenn es dem Patienten nicht passt! Auf die Frage, wie die Behandlung der Beule denn aussehen würde, wusste sie aber keine Antwort.
Allgemein werden die „Patienten“ von den Angehörigen und Freunden sehr stark umsorgt (in der CH würde man eher sagen: ghäschälät und bäschälät). Ich glaube aber, ein bisschen Ruhe würde den meisten mehr helfen…
Die Heimreise verlief ähnlich wie die Hinreise. Laut und wild. Und natürlich wurden wieder die gleichen Sing-Spiele gemacht. Zwischendurch tat mir der Fahrer schon ein bisschen leid.
Und dann platzte auch noch mitten in der Pampa ein Reifen! Glücklicherweise war der Fahrer aber sehr versiert und wechselte den Reifen innert kürzester Zeit, so dass wir ohne viel Verzögerung weiterfahren konnten.
Es waren in jeder Hinsicht zwei äusserst interessante und lehrreiche Tage:-)

Wow das tönt nach einer spannenden Freizeit! Danke für dein toller Bericht. Hatte das Gefühl, ich sei selber dabei gewesen;-)