„Regina, wenn du willst, kannst du gerne bei uns übernachten.“
„Und geh am Besten noch vor dem Donnerstag einkaufen!“
„Bist Du sicher, dass du alleine in deiner Wohnung bleiben willst über DIESES Wochenende?“
„Sei bloss vorsichtig bei all den Betrunkenen!“
Solche und ähnliche Ratschläge/Angebote wurden mir im August wiederholt gemacht von den unterschiedlichsten Freunden, Bekannten und Gemeindemitgliedern und ich dachte: Ach herrje! Das muss ja ein Wahnsinns-Fest sein!
Die Rede ist von Ch`utillos oder dem Fest zu Ehren des Heiligen Bartholomäus.
Ch`utillos ist DAS jährliche Fest in Potosí und wurde 2023 von der UNESCO zum „Immateriellen Kulturerbe der Menschheit“ erklärt.
Die Legende besagt, dass sich der Teufel in einer Schlucht ausserhalb der Stadt Potosí versteckte oder aufhielt. Wer auch immer dort vorbeiging, egal ob Mensch oder Tier, der starb. Die Einheimischen begannen darum, den Teufel zu verehren und anzubeten, um im Gegenzug gewisse Gefälligkeiten von ihm zu erhalten. Als dann im 16. Jahrhundert die spanischen Kolonisten kamen, brachten sie unter anderem auch eine Statue des heiligen Bartholomäus mit und verkündeten, dass der Heilige gegen den Bösen gekämpft und ihn besiegt hätte. Et voilà: Ch`utillos als jährliches Fest und Verehrung des Heiligen Bartholomäus war geboren!
Heutzutage ist dieses mehrtägige Fest eine Mischung aus Verehrung des Heiligen Bartholomäus, kulturellen Tänzen und bolivianischer Musik. Aus dem ganzen Land reisen die im Vorfeld auserkorenen Tanzgruppen an um ihren Tanz und ihre Kultur zu zeigen. Natürlich hat jeder Tanz seine Bedeutung und erzählt eine Geschichte: Den Kampf zwischen dem Teufel und dem Heiligen Bartholomäus, die Geschichte der Sklaven der Minen, das Leben der Lama-Hirten, die Zauberdoktore und Hexer, etc.
Der Tanzgruppen und Prozessionen folgen einer festgesetzen Route durch die Stadt und benötigen ca 4 Stunden für die Strecke.
Wenn Du dir dieses Schauspiel anschauen möchtest, kannst du dich aber nicht einfach irgendwo an den Strassenrand stellen. Nein! Die Gehsteige und Strassenränder entlang der Strecke werden meterweise vermietet. In grösseren Strassen werden sogar ganze Tribünen aufgebaut und nummerierte Sitzplätze vermietet.
Vor dem eigentlichen Fest finden an 2-3 Wochenenden die Proben statt. Da die Klinik und somit auch meine Wohnung ziemlich genau an der Route liegt, bekam ich schon mal einen ersten Eindruck. Die Strasse war übersäht mit Abfall und ohne Witz: Ich musste durch knöcheltiefen Abfall waten, um zur Eingangstüre zu gelangen. Es war auch einfach nur chaotisch und laut, sehr laut. Den ganzen Tag durch und bis um ca 4 Uhr morgens. Irgendwann nach Mitternacht hörte es sich eher wie Disko-Musik an und nicht mehr nach „traditioneller“ Musik. Als ich aus dem Fenster schaute, wusste ich warum: Unmittelbar vor der Klinik stand ein Lastwagen und auf dessen Ladefläche befanden sich jede Menge gigantischer Lautsprecher. Die Vibrationen des Basses waren so laut, dass die Fenster ständig klirrten.
„Aber ok. Es wird gut aushaltbar sein für 3 Tage während Ch`utillos.“, dachte ich mir.
Meine Freundinnen und Bekannten meinten aber, ich sollte nicht in der Wohnung bleiben, weil das eigentlich Fest viel schlimmer und gefährlicher sei. Nach kurzem Überlegen kam ich zum Schluss, dass es nicht so schlimm sein konnte. Einerseits weil viele von den besagten Bekannten und Gemeindemitglieder noch nie selber dabei waren und weil Bolivien in vielen Dingen noch nicht so weit ist wie Europa. Und genau so war es dann auch;-)
Als Klinik-Team hatten wir 2 Meter gemietet und richteten uns bequem ein, mit Stühlen, Sonnenschirm, Snacks, etc.
Weil in Bolivien „sehen und gesehen werden“ so ausserordentlich wichtig ist, zog als erstes alles was irgendwie auch nur im Entferntesten Rang und Namen hatte, oder sonst ein öffentliches Amt bekleidete, durch die Strassen.
Danach folgte die feierliche Prozession mit ein paar Priestern und der Statue des Heiligen Bartholomäus. Einige Hausbesitzer, deren Häuser unmittelbar an der Route liegen, bauen vor ihren Häusern einen Altar auf für Bartholomäus. Wenn die Statue dann an diesem Altar vorbeikommt, machen die Priester Halt, wenden sich dem Altar und dem Haus zu und segnen es.

Und dann kommen die eigentlichen kulturellen Tänze. Ein farbenfrohes Spektakel.






Dazwischen kommen immer wieder die „fliegenden Verkäufer“ vorbei mit allerlei Dingen wie Essen, Stühle, Spielzeug, Regenschirm, etc. Ab dem späteren Nachmittag wird auch alles mögliche an alkoholischen Getränken angeboten. Natürlich alles in kleinen Plastikflaschen abgefüllt.



Bei einigen Gruppen fährt ein reich verziertes Auto im Schritttempo vorne weg. Ch`utillos ist für die reichen Familien auch eine Gelgenheit, zu zeigen, was sie alles besitzen. Die Teller, Kisten und Gegenstände auf und an dem Auto sind alle aus echtem Silber.

Alles in allem war das eigentliche Fest Ch`utillos viel gemütlicher und ruhiger als die Probe-Wochenden, die Strassen erstaunlich sauber und die paar Betrunkenen harmlos.
Ch`utillos hat mir nicht nur zwei arbeitsfreie Tage beschert, sondern auch einen weiteren Einblick in die hochkomplexe heidnisch-religiöse Denkweise der Einheimischen und deren Auswirkung auf ihr Leben. Jedes noch so kleine Detail hat seine Bedeutung, ein Vergessen oder Auslassen von bestimmten Regeln oder Vorschriften hat unter anderem schwerwiegende Folgen (z.B. Krankheit, Tod, Unglück). Die Angst vor möglichen Fehlern und den Konsequenzen/Bestrafung durch den Teufel oder sonstige Geister ist bei vielen allgegenwärtig.
Wie sehr wünsche ich mir, dass diese Leute echten Frieden, Ruhe und Sicherheit bei DEM finden dürfen, der mächtiger ist als der Teufel und alle Heiligen.