Kürzlich hatte ich einen Gratis-Crash-Kurs zum Thema „Kultur“ erhalten. Von der Direktorin der Sprachschule höchstpersönlich.

Ich weiss jetzt, dass „Nein“ nicht einfach „Nein“ heisst, Quantität vor Qualität kommt und dass das Herzstück eines Festes das Essen, resp die Torte ist!

Aber jetzt mal der Reihe nach:

Stell Dir vor: Du gehst extra zur Sprachschule und lernst schön brav die Grammatik und auch eine Menge Wörter. Die wichtigsten natürlich zuerst: Danke. Bitte. Ja. Nein. Ich heisse… etc.

Im Alltag ist die Bedeutung dann aber ganz anders:

  • SÍ (ja) bedeutet eigentlich „vielleicht, aber eher nein“
  • No (nein) bedeutet „Nein! Auf keinen Fall! Ich hasse Dich!“  
  • Talvez (vielleicht) ist die höfliche Art um „nein“ zu sagen.
  • „Sí, sí, danke dass du an mich denkst. Was genau muss ich machen?“ -> Das würde in dem Fall einfach „Ja“ bedeuten.

Da muss das Hirn jede Menge Arbeit leisten; sowohl beim Geben einer Antwort, als auch beim Erhalten. Das nennt man dann wohl „um die Ecke denken“. 

Es kommt aber noch besser: Wenn eine Person ihre Zusage für eine Aufgabe gegeben hat (z.B. etwas für einen Frauentreff vorbereiten, oder Kindernachmittag, o.ä.), dann kann ich das nicht einfach abhaken. Ein paar Tage vorher muss ich aktiv nachfragen: „Wie geht es dir mit der Aufgabe? Brauchst Du irgendwo noch Unterstützung?“ Und am Tag der Durchführung am besten nochmals mit der Person direkt Kontakt aufnehmen und ihr Mut machen oder im Voraus danken. Das alles dient eigentlich nur dazu, um sicher zu stellen, dass die Person die Aufgabe nicht vergisst. 

Ganz schön kompliziert! In meiner Agenda wird wohl in Zukunft hauptsächlich stehen, wann ich wem welche Antwort und Erinnerung zukommen lassen muss:-)

Laut Direktorin haben die Bolivianer auch ziemlich Schwierigkeiten mit dem Einschätzen und Kalkulieren der Zeit. Sie sagen zwar, sie kommen in 5 Minuten. Aber dann werden es plötzlich 20 oder 30 Minuten. Sie WOLLTEN wirklich in 5 Minuten kommen, aber die Arbeit dauerte eben doch länger, der Bus kam zu spät, etc… Sie haben einfach nicht so ein Zeitgefühl.

Zu einem Fest sollte man nicht pünktlich kommen, sondern am besten eine Stunde später als angegeben, oder aber auch 2 Stunden später. Die Ankunftszeit ist nicht so wichtig, ausser bei katholischen Hochzeiten. Was zählt, ist, wie lange man bleibt. Je länger desto besser. Aber auf jeden Fall sollte man nicht vor dem Essen und der anschliessenden Torte/Dessert gehen, weil das gewöhnlich „das Herzstück des Festes“ ist. Im Klartext heisst das also: Plan Dir nie etwas zusätzliches ein an solch einem Tag, denn du hast keine Ahnung, wann der Anlass zu Ende sein wird.

Ein Anlass, eine Schulung oder ein „gemeinsames Essen“ kann locker mehrere Stunden dauern. Auch weil es vielleicht nicht gut vorbereitet ist, die Hälfte fehlt, usw., aber das ist nicht relevant. Es ist viel wichtiger, dass man zusammen etwas macht. Je länger desto besser. Die Qualität spielt dabei so gut wie keine Rolle. Quantität ist gefragt. 

Ich versuche mir gerade vorzustellen, was dabei herauskommen würde, wenn man in der Schweiz die Qualität weglassen und dafür den Zeitfaktor erhöhen würde… ??

Willst du Dir Feinde machen in Bolivien, dann ist das Hinterfragen ein sicheres Rezept dafür. Autorität und Hierarchie werden hier gross geschrieben. Der Arzt, die Lehrperson, der Anwalt, etc. hat angeblich immer recht. Auch wenn die Arbeit qualitativ schlecht ist. Autoritätspersonen und ihre Aussagen (kritisch) zu hinterfragen, kommt einer Beleidigung gleich. Man macht einfach, was einem gesagt wird. Punkt. Selber denken und vorausschauend planen, wird hier nicht gelehrt und gelernt.

DAS wird wohl eine der grössten Herausforderungen für mich werden. Ich glaube, das Wort „Warum?“ sollte ich sicherheitshalber aus meinem Wortschatz streichen… mein Ziel ist es nämlich, am Ende meiner Zeit in Bolivien mehr Freunde als Feinde zu haben;-)

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