Vollbepackt mit diversen Einkaufstaschen und ein bisschen im Schuss kam ich an jenem Freitag Vormittag in die Klinik zurück. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass das Wartezimmer voll war und alle Mitarbeiter beschäftigt. Super! Das gab mir die Gelegenheit, einfach direkt in meine Wohnung gehen zu können, ohne noch gross mit irgend jemandem plaudern zu müssen.

Als ich dann am Nachmittag zur internen Weiterbildung in der Klinik ging, traff ich als erstes Daysi, die bolivianische Pflegefachfrau. Sie sah mich mit ernstem Gesichtsausdruck an und fragte: „Regina, kennst du einen Mann mit Namen XY?“ Als ich verneinte, schaute sie mich einfach nur an und sagte erst mal nichts. Auf die Frage, was den los sei, meinte sie nur: „Cait (US-Pflegefachfrau) wird sicher nach der Weiterbildung mit dir reden.“ Etwas verdutzt und verunsichert nahm ich an der Weiterbildung teil, habe aber wahrscheinlich nur die Hälfte mitbekommen.

Gleich nach der Weiterbildung kamen Cait und Meghan auf mich zu und stellten mir die gleiche Frage wie Daysi. Dann erzählten sie mir, dass am Morgen ein Patient kam und darauf bestand, mit mir zu sprechen. Er beharrte angeblich die längste Zeit darauf, dass er mit Regina sprechen müsse, der Ausländerin mit dem Zopf. Sein Verhalten wurde laut den beiden immer auffälliger und aggressiver. Er sprach von irgendwelchen Kubanern, die bald kommen würden und sonstiges wirres Zeug und verlangete weiterhin, mit mir sprechen zu müssen. 

Blöderweise hatte er gesehen, wie ich vom Einkauf zurück kam und wusste, dass ich mich im Gebäude befand. Schliesslich gelang es Daysi, ihn davon zu überzeugen, dass es nicht möglich war, mit mir zu sprechen und er verliess die Klinik. Leider wohnte er aber in der Nachbarschaft.

Nachdem ich mir das alles angehört hatte, war ich erleichtert. Ich hatte mir schon das Schlimmste vorgestellt… aber ein auffälliger Patient, der wirres Zeug redet?? Kein Problem. Solche Patienten gehörten ja zu meinem Arbeitsalltag in der Schweiz;-)

Was ich jedoch nicht so ganz verstand, waren die besorgten Gesichter meiner Team-Kollegen. Und dann fingen sie auch noch an, mit mir die wichtigsten Punkte bezüglich Sicherheit durchzugehen: 

  • Schliess immer die Türe ab!
  • Geh abends nach Einbruch der Dunkelheit besser nicht mehr raus.
  • Wenn unterwegs etwas auffällig ist, such Hilfe! Geh in die nächste Apotheke oder irgendwo sonst rein, wo sich Leute befinden. Geh auf keinen Fall nach Hause!!
  • Schau, dass du immer genügend Geld auf deinem Handy hast. 
  • Usw. 

Ich versprach Cait und Meghan, vorsichtig zu sein und nach dem alle gegangen waren, kontrollierte ich nochmals alle Türen, ob sie auch wirklich verschlossen waren. 

Und dann kam die Nacht. Ich sage dir, das Einschlafen wurde eine richtige Herausforderung. Alle mir eigentlich bekannten Geräusche bekamen plötzlich ein Eigenleben. Meine Fantasie war hellwach und arbeitete auf Hochtouren. Es wurde mir auch wieder bewusst, wie einfach es ist, in die Klinik reinzukommen, trotz verschlossener Türe. Es gibt ja auch keinen Hund in der Klinik. Ich überlegte mir, wie ich es anstellen würde, welche Dinge ich dazu bräuchte, etc. Und falls wirklich jemand einbricht, wie ich mich verhalten sollte. Wo die anatomischen Schwachstellen sind, was ich in Griffnähe haben sollte… und plötzlich fiel mir ein, dass ich ja die Nummer der Polizei gar nicht kenne. Ich beschloss, diese Nummer sicherheitshalber auf dem Handy zu speichern und suchte sie im Internet. Je mehr ich suchte, umso verwirrter wurde ich. Welche der vielen Nummern ist jetzt wohl die richtige? Und was ist mit all den Kommentaren, die besagten, dass die Nummer ungültig sei, oder dass die Polizei im Ernstfall nicht ausrückte, oder erst mehrere Stunden später? Ich speicherte ein paar der erwähnten Nummern und hoffte einfach, dass ich sie nie brauchen würde.

Und dann kam mir der „rettende Gedanke“: In dieser Kultur wird ja nicht wirklich geplant. Das würde dann ja auch heissen, dass sich niemand überlegt, wie er oder sie denn in die Klinik reinkommt;-) und kurz darauf schlief ich endlich ein. 

Am nächsten Tag fragte ich diverse Leute nach der richtigen und zuverlässigen Polizeinummer, die mir aber auch nichts definitives sagen konnten. Ich weiss also bis heute nicht so genau, welche der Nummern nun wirklich richtig und gültig ist. 

Und über die mehrfach gehörte Aussage „Die Polizei kommt eh nicht, erst wenn es sicher ist für sie.“ muss ich noch heute lachen!

Wer der auffällige Patient war, fand ich später auch heraus. Wir beide waren einmal im gleichen öffentlichen Bus und er setzte sich für die ca 30minütige Fahrt neben mich. Er versuchte, alles möglich über mich zu erfahren. Alles was er jedoch erfuhr, war mein Name und der Name der Klinik, weil er einen Arzt suchte. Für den Rest der Fahrt, stellte ich die Fragen;-) Ein in der Tat äusserst auffälliger, ca 60jähriger Mann, der sich aber im Gespräch gut führen liessen und absolut harmlos war.

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