Sie kommen von überall her.
Manche sind reich, andere gehören zur Mittelschicht und wieder andere sind mausarm.
Mal riecht es in der Klink nach Parfüm und mal wünschte ich sehnlichst, dass es ein paar Fenster hätte, die ich öffnen könnte.
Einige wohnen gleich um die Ecke, andere sind mehrere Stunden angereist.
Sie kommen alleine oder mit mehreren Familienmitgliedern.
Wenn wir Pech haben, sprechen sie nur Quechua. Dann sind die begleitenden Familienmitglieder unser „Glück im Unglück“, denn die können meistens Spanisch.
… oder sie kommen gar nicht, sondern gehen zum „Zauberheiler“ oder „Hexendoktor“.
Das Verständnis über Krankheit, Ursache und Wirkung ist gleich Null. Schulungen wären bitter nötig, aber wie erklärst du den Leuten, die grösstenteils nur im Hier und Jetzt leben, dass gewisse Medikamente für den Rest des Lebens eingenommen werden müssen? Auch dann, wenn keine Symptome oder Schmerzen zu spüren sind? Und wenn die Medikamentenpackung leer ist, dass man dann nicht geheilt ist, sondern neue kaufen muss?
Dann wäre da noch die Tatsache, dass es an vielen Orten keine Apotheke gibt, die nötigen Tabletten unter Umständen zu teuer sind, oder die Medikamente in den ländlichen Gebieten schlicht und einfach nicht erhältlich sind… dafür gibt es dort dann halt den Zauberdoktor zur Überbrückung bis man irgendwann wieder in die Stadt kommt.
Es ist auch immer wieder ein lustiges Rätsel raten, was die Ursache sein könnte. Einerseits fällt es vielen schwer, ihre Symptome zu beschreiben und andererseits ist „der Schreck“ ganz klar die Ursache für viele Krankheiten: Schwerhörigkeit, Taubheit, Schmerzen, Schwindel, etc…
Gastritis, Depression und Angstzustände sowie allgemeine (Gelenks-)Schmerzen gehören mit zu den häufigsten Diagnosen.
Typisch für diese Region ist die Poliglobulie. Die Patienten haben zu viele rote Blutkörperchen (der Körper meint es gut und produziert zu viel). Das Blut ist nicht mehr schön flüssig, sondern dickt ein und löst unterschiedliche Symptome aus. Mittels einer einfachen Blutuntersuchung messen wir den Hämatokritwert (wie dick das Blut ist) und je nach dem reichen Tabletten oder es muss ein „Aderlass“ durchgeführt werden. Natürlich mit wenig Material und viel Improvisation:-)

Eine unserer Hauptbeschäftigung ist aber ganz klar das Durchführen der Audiometrie (Hörtest). Es gibt hier in Bolivien (besonders in den höheren Regionen) sehr viele Leute, die kaum oder gar nichts hören. Was genau die Ursache dafür ist, konnte mir niemand sagen. Anscheinend ist das noch nicht vollständig geklärt. Manchmal ist es die Arbeit (Minen-Arbeit), aber man nimmt auch an, dass die Höhe einen grossen Einfluss hat. Es sind nebst den älteren Leuten auch sehr viele Kinder und junge Leute betroffen. Die stark eingeschränkte Hörfähigkeit oder Taubheit führt oft dazu, dass die Schule nicht besucht werden kann, keine Arbeit gefunden wird und die Leute somit in die Isolation rutschen.
Die Betroffenen können eine Art „Behinderten-Ausweis“ beantragen und erhalten je nach Schweregrad eine kleine finanzielle Unterstützung vom Staat. Dafür brauchen sie aber einen staatlich anerkannten Hörtest mit Zertifikat. Und jetzt halte dich fest: Die Klinik Allinta Ruwana ist aktuell der einzige Ort im ganzen Bundestaat Potosí, an welchem die betroffene Person so einen Hörtest machen lassen kann, um danach den Ausweis beantragen zu können! Auch wenn der Patient 1000km weit weg wohnt, er muss den Test bei uns machen lassen. Ein anderer wird nicht anerkannt!
Kürzlich haben wir (die Klinik) eine Kiste mit Hörgeräten und Zubehör als Spende bekommen. In einer 1-tägigen Schulung lernten wir, wie man das richtige Ohrpassstück aussucht damit es richtig in den Gehörgang passt, welche Stärke des Hörgerätes benötigt wird und was zur Patientenschulung gehört.

Anhand der Resultate des Hörtests kann auch abgeschätzt werden, ob ein solches „modernes“ Hörgerät eine Hilfe sein wird oder nicht.
Und natürlich muss auch immer gut überlegt werden, ob dieser Patient auch in der Lage sein wird, das Hörgerät richtig anzuwenden.
Nun haben wir bereits einigen Patienten so ein Hörgerät „schenken“ können.
Da wäre zum Beispiel der kleine Junge, der so gut wie nichts hörte. Du hättest seine leuchtenden Augen sehen sollen, als er Dank dem Hörgerät das erste Mal etwas hörte! Für ihn bedeutet das nun, dass er die Möglichkeit hat, in die Schule zu gehen. Und dass er später einen Beruf ausüben kann.
Oder die ältere Dame, die in Begleitung zweier ihrer Söhne kam: Auch sie hörte kaum mehr etwas und die Teilnahme am Familienleben war sehr stark eingeschränkt. Die Kommunikation fand grösstenteils über Handzeichen statt oder Informationen wurden in kurzen, abgehackten Sätzen geschrien (Quechua). Nachdem wir das Hörgerät und die Stärke angepasst hatten, war sie in der Lage, ihre Söhne wieder zu verstehen und plötzlich lachte sie. Sie hatte das erste Mal seit vielen vielen Jahren die ganz normale Unterhaltung ihrer Söhne wieder verstanden, wusste warum sie plötzlich lachten (ein Witz) und konnte ins Lachen mit einstimmen. Es blieb aber nicht nur beim Lachen. Diese alte Dame machte gleich selber wieder Witze:-)
Liebe Regina
Ich mag deine Beiträge sehr! Du schreibst so unterhaltend und bildlich.
Ich freue mich immer, wenn wieder ein neues Datum erscheint. 😊
Manchmal weiss ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Bei aller Dramatik ist oft auch etwas Situationskomik dabei.
Beim lesen deiner Berichte, wird mir immer wieder klar,dass wir’s hier in Zürich bei der Spitex, mit pipifax Problemen zu tun haben.
Ganz en liebä Gruess
Marion 🙋♀️