Zugegeben, es war nicht gerade die beste Idee, aber leider hatten wir keine andere Möglichkeit. Wir mussten an diesem 1. Februar auf den Berg hochgehen. Am Samstag danach sollte nochmals ein Kindernachmittag stattfinden, bevor das neue Schuljahr wieder startete. Damit die Familien und Kinder Bescheid wussten, mussten wir also hochgehen und sie persönlich einladen. Einfach per WhatsApp informieren geht hier nicht. Einerseits haben noch lange nicht alle ein Smartphone und andererseits ist der Empfang oben sehr schlecht. Und selbst wenn sie die Nachricht erhalten, können sie oft nicht wirklich etwas damit anfangen, weil das Leseverständnis kaum vorhanden ist.
Wir trafen uns wie gewohnt im K`asa, wo die Busse abfahren um auf den Cerro zu gelangen. Aber heute war es ein bisschen anders. Es herrschte mehr Jubel und Trubel, mehr Abfall lag herum, hauptsächlich leer Bierdosen, und die Stimmung wirkte ausgelassen und heiter. Es war ja schliesslich auch „Día de Compadres“ (Paten- oder Kameraden-Tag). In den meisten Minen (mind. in den staatlichen) wurde heute nicht gearbeitet, sondern man feierte die Compadres. Und weil ja hier in Bolivien so ziemlich jeder Mann von irgend jemandem ein Pate ist, wurden einfach alle Männer gefeiert; natürlich mit Alkohol in rauen Mengen und zwar wurde damit schon am Morgen begonnen.
Unser Ziel war es, möglichst schnell hoch, bei den uns bekannten Familien vorbeigehen, sie einladen und schauen, dass wir möglichst schnell wieder runterkamen.
Auf der Fahrt nach oben, lernten wir die traurige, aber alltägliche Geschichte eines 13-jährigen Jungen kennen: seine Mutter ist verstorben, beim Stiefvater konnte er nicht mehr leben und so zog er zu seinem älteren Bruder und dessen Familie nach Potosí. Da der ältere Bruder aber selber in der Mine arbeitet und kein Geld für den 13-Jährigen und die Schule hat, muss der Junge nun auch in den Minen arbeiten und kann nicht mehr zur Schule gehen. Die Arbeit in den Minen gefällt ihm gar nicht (verständlich!) und macht ihm Angst.

Da es in der Nacht zuvor geregnet hatte und es auch tagsüber immer mal wieder kurz regnete, waren die Strassen und Wege matschig und rutschig. Eine neue Herausforderung hier oben;-)
Wir suchten als erstes eine uns bekannte Familie mit 5 Kindern auf und wollten eigentlich nur die Einladung aussprechen und gleich weitergehen. Die Mutter bat uns jedoch, wenigstens für ein paar Minuten hereinzukommen. Wir traten also ein und bekamen einen Eindruck, wie die Familie lebte. Ein winziger Raum ohne Fenster für 7 Personen. Das Bett an einem Ende füllte bereits etwa einen Drittel des Raumes aus. Dann folgte eine Holzablage, die übersäht war mit Fleece-Decken und allem Anschein nach die Schlafstätte für die Kinder war. Zwei Herdplatten, eine grosse Gasflasche zum Kochen, ein grosser Kübel mit Wasser und ein sehr kleiner Tisch passten auch noch gerade so in den Raum hinein.
Privatsphäre gibt es hier nicht. Auch kein WC. Ebenso wenig fliessendes Wasser. 2-3x pro Woche kommt ein Lastwagen mit Trinkwasser hier herauf und füllt die Wasserkübel/kleiner Tank der Familie.
Hier lebten also die 5 Kinder (0-17Jahre) mit ihrer Mutter und ihrem alkoholabhängigen und gewalttätigen Vater. Die 17-jährige Tochter kann nicht mehr zur Schule, weil das Geld fehlt. Ob und wie lange ihre jüngeren Brüder noch zur Schule können, ist unklar.
Wir blieben eine Weile, „spielten“ so gut es ging mit den Kindern und sprachen mit der Mutter.
Als wir uns dann auf den Weg nach unten machten, sahen wir, dass die Eingänge der Minen schön dekoriert waren und sahen daneben auch so was wie kleine Altäre und Opfer. Bei einer grösseren Mine entdeckte ich plötzlich zwei Lamas. Wie sich herausstellte, war heute auch gerade der Tag, an dem viele Minen wieder neu „dem Tío geweiht“ werden. Dafür werden um die Mittagszeit Lamas geopfert. Das Blut wird an die Mineneingänge geschmiert, das Fleisch gekocht und anschliessend gegessen. Auf den kleinen „Mini-Altären“ werden unterschiedliche Sachen verbrannt und geräuchert für die Pachamama. Die Minenarbeiter deponieren dort auch oft Kokablätter und Zigaretten. Dann schütten sie zuerst einen Schluck Alkohol auf den Boden für Pachamama und trinken danach selber einen Schluck.


Und dann geschah es! Ein Knall zerriss die Stille, der Boden zitterte und ein paar Kieselsteine rieselten auf uns herab. Ich hatte fast einen Herzinfarkt!
Was war das? Stürzte jetzt der Berg ein? Ist irgendwo ein Unfall passiert?
Doch nichts dergleichen. Vielleicht 50 Meter neben uns haben ein paar Mineros ein bisschen Dynamit gezündet. Auch das gehört angeblich zum Fest und ist eine weitere Art, dem Tío ein Opfer zu bringen.
Auf unserem restlichen Weg nach unten explodierte dann auch immer mal wieder irgendwo Dynamit. Mal weiter weg, mal näher. Und mehr und mehr bereits betrunkene Männer (alt und jung) kamen den Berg hoch, um bei ihren Minen zu feiern.
Dieser Besuch auf dem Cerro hat mir heute ehrlich gesagt viel zu denken geben und mich noch eine ganze Weile beschäftigt. Ein einfaches WC hat plötzlich einen anderen Stellenwert erhalten. Die kleine Waschmaschine (die mir oft Löcher in die Kleider macht;-)) ist jetzt ein wahrer Luxus-Gegenstand. Aber was mich am meisten mit Dankbarkeit erfüllte, war die Tatsache, dass ich eine Schule besuchen und einen Beruf erlernen durfte. Das Lernen, das für uns oft eine lästige Aufgabe war oder ist, ist und bleibt für viele hier in Bolivien ein Traum.