In Potosí gibt es mehrere Centro de Desarrollo Infantil (CDI). Kinder aus eher ärmlichen Verhältnissen können sich in diesen Zentren einschreiben lassen und nach (oder vor) der Schule in „ihr“ Zentrum gehen, wo sie Unterstützung bei den Hausaufgaben erhalten, Betreuung und in der Regel auch ein Mittagessen. Diese Zentren haben die Auflage, einmal jährlich einen medizinischen Check-up für alle eingeschriebenen Kinder anzubieten. Zwei dieser Zentren haben sich entschieden, dass wir, Allinta Ruwana, die Check-ups machen sollten und so kam es, dass in den vergangen Wochen immer wieder ein paar von uns in diesen Zentren waren. Jeweils eine der Ärztinnen und eine Pflegefachfrau.
Mich hat es jedes Mal mit der „Doctora Lis“ getroffen:-), unserer bolivianischen Allgemeinärztin. Meine Aufgabe war es, die offiziellen Formulare mit den allgemeinen Angaben zu versehen und danach die Vitalzeichen (Blutdruck, Puls, Temperatur, Sauerstoffsättigung) der Kinder zu messen so wie Gewicht und Grösse. Zum Schluss noch einen „Sehtest“, um zu sehen, ob eventuell eine Brille nötig wäre.
Danach übernahm Doctora Lis und führte ihre „Untersuchungen“ durch.
Pro Zentrum waren mehrere Hundert Kinder eingeschrieben und so sahen wir jeden Tag eine Menge dieser Kinder.
Da war zu Beispiel dieser Jugendliche (ca 17Jahre), der mit seiner kleinen Schwester kam. Der Junge war still und in sich gekehrt. Seine Hände zitterten und er wirkte nervös und gleichzeitig resigniert. Obwohl ich keine Zeit für ein richtiges Gespräch hatte, sprach ich ihn darauf an. Erst war nur Stille. Dann erwähnte er aber, dass es zu Hause massive Probleme gab und er eigentlich nicht weiss, wie es weiter gehen soll. Ich riet ihm, sich jemandem anzuvertrauen und er meinte, in seiner Schule gäbe es eine Person, an die er sich wenden könnte. Ich hoffe wirklich sehr, dass er sich Hilfe holt und keine Dummheiten macht.
Ein Mädchen, welches eben die Schule abgeschlossen und ein Studium/Ausbildung angefangen hatte, machte sich grosse Sorgen und hatte Angst, ob sie das überhaupt schaffen würde oder ob sie nicht besser gleich aufhören sollte. Während ich meine Arbeit machte, führten wir ein kurzes Gespräch und ich versuchte, sie zu ermuntern. Am Schluss äusserte sie dann, dass sie es weiterhin versuchen und es sicher klappen würde.
Ein kleiner, stiller Junge von etwa 8 Jahren kam und während ich mit ihm sprach, taute er immer mehr auf und fing an zu erzählen. Plötzlich kam seine Mutter herein und der Junge verstummt schlagartig. Er liess seine Schultern fallen und schien sich nicht mehr konzentrieren zu können. Einfache Aufforderungen wie z.B. „Stell dich bitte hierhin.“ schienen nicht mehr bei ihm anzukommen. Dafür herrschte seine Mutter ihn sofort an und betitelte ihn mit allen möglichen unschönen Wörtern. Er tat mir echt leid. Was wird das wohl für ein Zuhause sein, in dem dieser Junge aufwachsen muss?
Gegen Ende des Tages kam sie herein. Ein aufgewecktes, neugieriges Mädchen von vielleicht 10 Jahren. Sie war alles andere als scheu und erzählte frei heraus. Auch stellte sie mir Fragen zu meiner Herkunft, Alter und ob ich verheiratet sei. Als ich verneinte, wollte sie wissen, warum. Und ob ich vielleicht später doch mal noch heiraten würde? Ich konnte mich gerade noch beherrschen, um nicht laut herauszulachen. Die Situation war einfach zu komisch. Aber irgendwie schien es ihr keine Ruhe zu lassen und sie kam immer wieder auf dieses Thema zurück. Weil gerade kein anderes Kind am Warten war, sprachen wir ein bisschen weiter und auch über das was wirklich wichtig ist im Leben. Als ich sie fragte: „Was passiert mit deinem Geld, Haus, allen Dingen, etc. wenn du stirbst?“ war sie einen Moment still und antwortete dann mit sicherer Stimme: „Wenn ich sterbe, dann kann ich ja gar nichts mitnehmen. Ich muss alles zurücklassen. Du hast recht. Man sollte wirklich darauf vorbereitet sein.“
Auffallend viele Kinder sahen schlecht und würden eigentlich eine Brille benötigen, aber oft bekamen wir zu hören: „Meine Eltern haben kein Geld, um eine Brille zu kaufen.“ Oder: „Ich möchte keine Brille tragen, weil an meiner Schule die Kinder mit Brille ausgelacht werden.“
Das erstaunlich war, dass selbst die Mütter einiger dieser Kinder sagten, dass sie keine Brille kaufen würden, weil ihr Kind sonst ausgelacht werden würde!
Die meiste Jugendlichen waren scheu und sehr wortkarg. Sobald ich aber ein Gespräch begann und sie nach ihren Zielen, Träumen und Ausbildung fragte, war es, als ob jemand einen Schalter umgelegt hatte. Die Teenager erzählten von ihrer Ausbildung und Träumen und aus einigen sprudelte es nur so heraus. Gerade so, als ob ihnen noch nie jemand wirklich zugehört und sich für sie interessiert hätte.
Diese Tage haben mir einen weiteren wertvollen Einblick in „die Welt der Kinder und Jugendlichen“ beschert.
