Unzählige Stunden habe ich während dem Wundexpertenkurs damit zugebracht, die vielen Wundmaterialien und ihre Funktionen zu lernen. Und nun, da ich vieles in meinem Gedächnis gespeichert habe, sitze ich in Bolivien und das einzige was ich benutzen kann, sind Baumwollgazen! Schon ein bisschen frustrierend, das muss ich zugeben. Was mache ich eigentlich hier wenn ich nur Baumwollgazen zur Vergfügung habe? So langweilig… aber nur bis zu dem Moment, in dem der Patient sagte: Ich behandle meine Wunde (Dekubitus bis zum Knochen) mit Drachenblut. 

Erst dachte ich, ich hätte mich verhört. Drachenblut? Aber nein! Er meinte wirklich Drachenblut. Eine Antwort auf die Frage was das denn sei, hatte er allerdings nicht. Es wird von allen angewandt aber niemand weiss genau, was es ist, auch unsere bolivianische Ärztin kennt es, weiss aber nicht, was es wirklich ist.

Aus der Literatur erfuhr ich, dass Drachenblut das Harz aus dem Drachenblutbaum und in verschiedenen Formen erhältlich ist (Pulver, Tropfen, Lösungen, Harz, etc). Das Anwendungsgebiet ist denkbar einfach: Drachenblut hilft gegen alles. Von Kopfschmerzen, über Magenbeschwerden bis hin zu Problemen im kleinen Zeh. Auch gegen allerlei psychische und emotionale Krankheiten soll es Erleichterung bringen. Und nicht vergessen: Drachenblut ist sehr potent bei magischen Ritualen und Voodoo-Anwendungen.

Ob es allerding sinnvoll ist, dieses Mittel für tiefe, bis zum Knochen reichende Wunden zu benutzen, daran habe ich noch ernsthafte Zweifel.

Ein anderer Patient, der auch im Rollstuhl sitzt und sein Pflege-Assistent wollten gerne eine Wundbeurteilung haben. Sie haben ihre Produkte mitgenommen, die sie jeweils verwenden. Darunter befand sich auch ein orange-rote Paste, welche jeweils nach dem Reinigen in Wunde geschmiert wird. Neugierig wie ich war, wollte ich natürlich genau wissen, was es ist. Die beiden erklärten mir dann ausführlich, dass es ein Gemisch aus Chrom-Quecksilber, Penicillinpulver und weisser Vaseline ist. Die Paste wird zu Hause selber hergestellt, nach dem „Handgelenk-mal-Pi-Grundsatz“. Wenn die Paste die richtige Konsistenz und Farbe aufweist, dann ist sie fertig;-)

Die ganze Wundbehandlung klang ziemlich kurlig und fragwürdig und meine erste Reaktion war, ihnen diese Paste auszureden. Aber dann fragte ich mich, was ich ihnen als Alternative anbieten konnte. Ich hatte ehrlich gesagt keine Idee, ausser Zucker oder Honig, der natürlich auf dem Markt gekauft wird und auch nicht steril ist. Etwas anderes bekommt man hier schlicht und einfach nicht. Die beiden verwenden also weiterhin diese Paste, während ich mich auf die Suche nach einer geeigneteren Alternative mache. 

Eine andere Patientin, die ebenfalls bis auf den Knochen reichende Druckgeschwüre hat, bräuchte ein chirurgisches Debridement und danach eine richtige Wundbehandlung. Da sie Lehrerin ist, ist sie durch den „Staat versichert“. Theoretisch muss sie also für Arztbesuche und Material nichts bezahlen. Die Wahrheit ist jedoch, dass diese Leistungen so gut wie nichts einschliessen. Sie bekommt ein bisschen Material für die Wundpflege und das wars dann auch schon. 

Sie brauchte einen Monat, um nur mal einen Termin für einen Arztbesuch zu bekommen. Danach musste sie nochmals 2 Wochen warten, bis sie endlich zum Arzt konnte. Wir wollten, dass der Arzt die Wunden anschaut und sie danach in ein anderes Spital in einer grösseren Stadt überweist für die Operation. In Potosí gibt es keine plastische Chirurgie oder sonst ein Chirurg, der das machen könnte.

Die Patientin ging in Begleitung einer anderen bolivianischen Pflegefachfrau zum Arzt und als ich die beiden einen Tag später sah, erzählten sie mir davon. Der Arzt hatte die Wunde nicht einmal richtig angeschaut und der Patientin danach gesagt, dass sie so eine Operation nicht brauchen würde. Die Wunde würde gut aussehen und er sei sehr zufrieden weil keine Infektion vorhanden sei. Sie soll einfach so weitermachen.

… und genau das machen wir jetzt auch. Weiterhin Wundbehandlung mit feuchten Baumwollgazen. Etwas anderes bleibt uns auch nicht übrig.

Ich kann zwar nichts an der Materialsituation ändern, oder am Gesundheitssystem, aber dafür kann ich die Patienten „schulen“ und ihnen ein bisschen Wissen vermitteln, damit sie wenigstens verstehen was passiert und sich auch getrauen Fragen zu stellen beim Arzt. 

Einige der Pflege-Assistenten in der „Organisation Divertad“ sind Medizinstudenten oder Pflegefachfrauen. Mit ihnen habe ich schon viele Gespräche geführt und Fragen und Unklarheiten geklärt. Es ist immer wieder schön zu sehen, wenn sie ein AHA-Erlebnis haben, ihre Augen zu leuchten beginnnen und sie sagen: „Aha, jetzt verstehe ich. Dann haben wir das ja immer falsch gemacht! In Zukunft werde ich es so und so machen.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert